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Lagrange/Raum für Maryanne Amacher (2006 – unvollendet) – Maryanne Amacher/Micah Silver

Maryanne Amacher

Im Herbst 2006 begann Maryanne Amacher die Arbeit an jenem Projekt, das ihr letztes werden sollte: In Auftrag gegeben wurde es vom EMPAC, einem neuen Zentrum für Medienkunst, das nur knapp eine Stunde nördlich ihres Wohnorts lag. Für mich als Initiator war dieses Projekt deshalb so aufregend, weil hier eine einzigartige, visionäre Künstlerin auf eine architektonische Anlage traf, deren Akustik geradezu wie für ihre Arbeiten gemacht schien. Das Projekt stellte jedoch auch für Amacher eine besondere Situation dar, da es ihr erlaubte, über mehrere Jahre hinweg an ein und demselben Ort tätig und produktiv zu sein – genau die Gelegenheit für ein langfristiges, forschungsbasiertes Projekt, an dem sie bereits seit Jahrzehnten interessiert gewesen war.

In den Jahren bis zu ihrem Tod 2009 durchlief das Werk zahlreiche Konzeptionsphasen. Vorrangig waren dies: der Aufbau eines “Listening Team” [“Lauschteams”], um die kreativen Möglichkeiten der Mikrogravitation auszuloten (Parabelflug, Unterwassersimulationen, Raumstationen); eine Reihe von Exkursionen zu unterirdischen Observatorien in der ganzen Welt zu Aufzeichnungs- und Beobachtungszwecken; und die Erschaffung eines virtuellen Akustiksystems, um die auditiven Möglichkeiten anderer Spezies nachzubilden und den Zuhörer so in alternative Hörkörper zu versetzen. Es erwies sich als unmöglich, den ausgedehnteren Forschungsprojekten angemessene Form zu verleihen, und so entschied man sich, stereoskopische Videoaufnahmen sowie ihre Präsentationsform der Mini-Sound Series zum Ankerpunkt der eigentlichen Arbeit zu machen. Ihr Interesse an der Stereoskopie bestand schon seit ihrer Zeit am MIT in den 1970er-Jahren, und erst kurz zuvor waren daraus Verbindungen zu ihren Forschungen über die Wechselbeziehung zwischen der Wahrnehmung von Mikrogravitation und dem Gleichgewichtsorgan erwachsen: In den letzten Jahren war eine exaktere Steuerung der Stereoillusion möglich geworden, wodurch man sehr starke, ungewöhnliche Gleichgewichtsempfindungen und den Eindruck hervorrufen konnte, dass sich Bilder durch einen Raum hindurch und nicht nur innerhalb seiner Grenzen bewegen.

Die dramatische Struktur des Werks sollte die Forschungsthemen näher beleuchten: Wir begannen, Material für neue “Sound Characters” [“Klangbeschaffenheiten”] aufzunehmen, die auf dem Höreindruck vorbeifahrender Güterzüge im ländlichen New York unter bestimmten Wetterbedingungen beruhten. Parallel dazu entwickelte sie ein komplexes Räumlichkeitsschema mit mehr als vierzig gleichzeitig eingesetzten Lautsprechern, wobei die meisten mehrere Etagen vom eigentlichen Vorführungsort entfernt waren. Mit dem Aufenthaltsort des Zuhörers akustisch verbunden wurden sie durch in exakten Winkeln angelehnte Türen, Luftschächte, nur einen Spaltweit geöffnete Orchestergräben und Lautsprecher, die hoch unter der Decke in Lagerräumen angebracht waren. Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie fast zwei Jahre an ihrem Werk gearbeitet – geheimnisvoll und methodisch. Sie verbrachte sechs Wochen in Vollzeit am Theater, und den Großteil dieser Zeit verwendete sie einzig und allein auf die Entwicklung von Klangformen und die Lautsprecheraufstellung – was wohl seit den frühen 1980ern den Hauptanteil der Materialität ihrer Arbeiten ausmachte. Parallel dazu entwickelte die OpenEnded Group, das von ihr für die visuellen Aspekte ins Projekt eingeladene Team, stereoskopisches Material. Letzten Endes scheiterte die Kollaboration, und Amacher arbeitete allein weiter – ebenso wie die OpenEnded Group (die 2010 Upending produzierte).

Diejenigen von uns, die das Glück hatten, Amachers Arbeit während der Entstehung zu hören, erlebten Geräuschbilder, die scheinbar aus dem Nichts kamen – oder langsam durch den Raum wanderten, als ob sie unglaublich träge aus dem Erdmittelpunkt heraus ins All aufstiegen. Sie legte sich schließlich bei den Sound Characters für dieses Werk auf BozBoz sowie ein unbetiteltes Stück fest. Das Festhalten von Zuggeräuschen wurde aufgegeben, nachdem eine Aufnahme vorlag, die genau das einzufangen schien, wonach wir gesucht hatten.

Das hier am ZKM | Karlsruhe ausgestellte Material ist ein Fenster in Amachers Gedankenwelt zum Ende ihrer Laufbahn hin: Konstellationen sprühender Funken um die Abwesenheit dieses letzten Werks herum. Die losen Blätter und Animationen sind aus Ordnern, die sie in ihren gesammelten Forschungsunterlagen aufbewahrte. Viele schickte sie per E-Mail an Mitwirkende des Projekts, um zum Ausdruck zu bringen, wie sie ihr Denken zu Klang im Raum und dem Potenzial der Stereoskopie positionierte. Andere Unterlagen entstammen Aktenordnern aus ihrem Archiv. Sie werden gemeinsam als Forschungscluster präsentiert, in einer Mischung aus den greifbaren Manifestationen des Projekts und dem Verborgenen. Vieles davon mag zunächst zusammenhanglos erscheinen, doch wenn man sich länger damit beschäftigt, entsteht daraus eine Mind-Map, ein Gespür für das Projekt und Amachers Denken, das in keiner anderen Weise angemessen dargestellt werden könnte.

Der Titel LAGRANGE bezieht sich auf Lagrange-Punkte: Orte im Weltraum, an denen die Schwerkraft und die Orbitalbewegung eines Körpers einander ausgleichen.

Micah Silver

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christiansen & Plischke

Ablage links
Dokumente und Künstlermaterial, Korrespondenzen, Skizzen für Lautsprecheranordnungen
© Amacher Archive

Bildschirm 1 (links):
Maryanne Amachers Vortrag bei der Ars Electronica 1989, 60 Min.
© Ars Electronica

Bildschirm 2 (rechts):
Begehung der Räumlichkeiten von EMPAC / Lautsprecherpositionen, 5 Min.
© Mick Bello, EMPAC

Mitte
Material-Sammlungen von Maryanne Amacher im Kontext des Werkes LAGRANGE.
Sie sind eingeladen, in den Materialien zu stöbern.
© Amacher Archive

Wandprojektionen 1+2:
Wissenschaftliche Visualisierungen, die Amacher in Bezug auf ihre Arbeit am “Sound” inspirierten. Die Visualisierungen wurden 1999 mit einem SGI-Supercomputer erzeugt.
© Amacher Archive / Center for Computation Technology, Louisiana State University USA

rechts
Foto The Star Room
The Star Room ist eine Unterwindzone unterhalb des Auditoriums des EMPAC Theaters. Amacher wählte den Titel unmittelbar beim Betreten des Raums wegen seiner besonderen Atmosphäre. Licht wird von oben auf den Boden projiziert, es ist extrem leise, und ein riesiges Luftvolumen bewegt sich langsam durch den Raum. Diesen Raum nutzte sie vor allem für Subwoofer, deren Frequenzen sich durch den Boden und die Klimaanlage ausbreiteten. Der Ort wurde nach Amachers Tod nach ihr benannt.
© Eric Ameres / EMPAC

Klangdusche mit Dense Boogie I
Dense Boogie I ist ein Beispiel für die von Amacher so genannte “Ear Tone Music”. Wenn man unter der Glocke steht, wird man sowohl den Klang hören, der vom Lautsprecher kommt, als auch einen Klang, der vom Ohr selbst konstruiert wird. Diese Töne sind ungefährlich und wissenschaftlich bekannt als Kombinationstöne. Amacher komponierte auf diese Weise verschiedene Klänge. Zu hören ist nicht eine Komposition, sondern ein Element, das als Material für eine größere Struktur verwandt wurde.
© Amacher Archive / Tzadik Records

2 Hörstationen mit visualisierter Klanganalyse:
Jede Hörstation beinhaltet einen Sound Charakter, den Amacher für das EMPAC-Werk beendet hatte. Es sind also keine Stücke, Amacher hätte diese nie als solche präsentiert. Sie sind hier vorgestellt als Artefakte, als wenn sie unter ein Mikroskop gelegt worden wären. Jedes Klangdokument wurde von Marc Downie der OpenEnded Group analysiert, sodass eine innere Logik des Materials zutage tritt, obwohl die Oberfläche eher statisch erscheint.
©Amacher Archive / Marc Downie

Abb.: © ZKM | Karlsruhe, Foto: Steffen Harms

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