Sound Art. Klang als Medium der Kunst – Peter Weibel
Die moderne Kunst begann mit einem bis dahin unbekannten Ton: dem Geräusch, dem verworfenen, verdrängten und illegitimen Geräusch. Der futuristische Maler und Komponist Luigi Russolo veröffentlichte 1913 das Manifest L’arte dei rumori [Die Kunst der Geräusche] und beschrieb darin die Geräusche, die er in den Großstädten entdeckte. Er entwickelte außerdem diverse Instrumente zur Geräuscherzeugung, die intonarumori [Geräuscherzeuger], eine Zusammenstellung verschiedener Kästen mit Schalltrichtern, die speziell behandelte Membrane zur Erzeugung verschiedener Geräusche beinhalteten. Berühmt ist das Foto mit Russolo inmitten seiner gigantischen Lautsprecher. Das Geräusch bekam nun ein Gesicht, der Ton ein Bild. Das Zeitalter der Stratocaster, Gitarren-Armeen und gigantischen Verstärkermauern [Wall of Sound] erhob aus der musikalischen Dämmerung sein gorgonisches Haupt. Bereits 1907 hatte Ferruccio Busoni seine Schrift Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst mit Überlegungen zu neuen Tonskalen, Sechsteltonsystemen und ersten Ahnungen von den Möglichkeiten elektrisch erzeugter Klänge publiziert. Die Veröffentlichung der überarbeiteten Fassung im Jahr 1916 löste heftige Kontroversen aus. Von konservativer Seite antwortete Hans Pfitzner 1917 mit seiner Schrift „Futuristengefahr“. Aber der Virus des Geräuschs, von den Futuristen in die ehrwürdigen Tonhallen eingeschleppt, konnte nicht mehr verbannt werden. Das Geräusch emanzipierte sich und wurde neben dem Klang, dem Ton und der Stille zu einem gleichberechtigten Kompositionsmaterial. Edgar Varèse hat es daher später vorgezogen, statt von Musik von „organisiertem Ton“ zu sprechen. Er selbst lieferte uns anlässlich einer Vorlesung an der Princeton University 1959 die Stichworte: „Mein kämpferischer Einsatz für die Befreiung des Klangs und für mein Recht, mit jeder Art von Schall, mit allem was klingt Musik zu machen, ist zuweilen als Wunsch, die große Musik der Vergangenheit herabzusetzen, ja sogar sie zu verwerfen, ausgelegt worden…“ Die Emanzipation des Schalls ist nicht als Herabsetzung der Musik zu verstehen, sondern als Sehnsucht, „unser musikalisches Alphabet zu erweitern“, wie er schon 1916 im New Yorker Morning Telegraph forderte. Seitdem gilt: Alles, was klingt, gehört zur Kunst des Klangs. Ob das Zischen von heißem Blei beim Eintauchen in kaltes Wasser, ob das Aufschlagen von Holzstäben auf verrostete Rollläden, ob die Klänge präparierter Klaviere — alle Töne, Geräusche und Klänge sind Teil des neuen Klangkosmos. Alle Schall erzeugenden Gegenstände können zu Klanginstrumenten werden. Der Klang wird aus dem Gefängnis der Musik befreit. Jede Art von Schall wird kunstfähig. Das musikalische Alphabet ist zum ersten Mal umfangsgleich mit dem Universum geworden. Die ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, von Futurismus bis Dada, von Fluxus bis Happening, haben diese Ideen in zahlreichen Aktionen und mit zahlreichen neu geschaffenen Instrumenten weiterentwickelt. Tonkunst und Geräuschkunst wurden so zu einem Teil der bildenden Kunst. In den 1950er- und 1960er-Jahren haben die Vertreter der Musique concrète und die Künstler der Happening- und Fluxus-Bewegung [von Yoko Ono bis La Monte Young] den performativen Aspekt der Musik so weit ausgedehnt, dass an die Stelle von Komposition Zufall, an die Stelle von Musik Schweigen [John Cage, Silence, 1961], an die Stelle des Orchesters das Meer und an die Stelle des Musikers ein Pferd treten konnten. In den 1970er- und 1980er-Jahren ist sogar die Popmusik vom Industrial Noise beeinflusst worden [Sonic Youth, The Art of Noise, Throbbing Gristle, etc.], ebenso die Punkmusik. Durch die Fusion von Pop und Kunst haben immer mehr bildende Künstler die Schallplatte selbst als Medium visueller Praktiken entdeckt, von Milan Knížák bis Christian Marclay, der 2011 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gewann. Sogar Schallplattencover, nicht nur Vinylplatten, wurden kunstfähig. Neben Telegramm, Buch, Video, etc., wurden auch Schallplatten zu Kunstwerken [Germano Celant, Record as Artwork 1959–73, Ausst.-Kat. 1973]. Grafische Notationsexperimente seit den 1950er-Jahren, von Earl Brown bis Anestis Logothetis, haben ebenfalls den Klangraum zu neuen Tönen und zum Interpreten hin geöffnet. Auch das Hörspiel wurde ab den 1960er-Jahren von bildenden Künstlern als Medium erobert. Vor allem Medien- und Konzeptkünstler haben die Klangkunst weiterentwickelt und ihr ab Mitte der 1960er-Jahre ein neues Fundament gegeben. Klangkunst wurde zu einer eigenständigen Kunstform innerhalb der bildenden Kunst. Nicht Komponisten und Musiker, sondern Architekten und bildende Künstler haben die Welt des Tons weiterentwickelt. Der Lärm, der in die Welt der Musik eindrang, hat die Musik nicht zerstört, sondern den Kosmos des Klangs erweitert: von Varèse bis zu seinem Schüler Frank Zappa. Mit der Erfindung des Synthesizers um 1960 wurde es möglich, Töne auf elektronischem Wege per Klangsynthese zu erzeugen. Die Welt des Tons entwickelte sich aus der Welt der Realität zu einer rein technisch artifiziellen Welt, die einen ganz neuen Hörraum eröffnete. Mithilfe elektronischer Schaltungen wurde es auch möglich, die Bewegung des Tons im Raum zu steuern. Spatiale Musik entstand, beispielsweise Ambient music. Der Computer ermöglichte nicht nur neue Formen des Klangs, sondern auch neue Formen der Komposition. Zeitliche und sonische Verformungen und Verzerrungen, mehrkanalige Speicherungen und Wiederholungen, Modulationen und mathematische Methoden der Stochastik und Aleatorik eröffneten das Feld der akusmatischen Musik, das bereits La Monte Young mit seinen neuen und ungewöhnlichen Frequenzverhältnissen eröffnet hatte. Mit Synthesizer und Computer wurde die Ära des Techno-Sounds eingeleitet. Varèse hat das Wesen der elektronischen Musik verstanden, nämlich als ein von Umwegen befreiendes Komponieren: „Unser neues befreiendes Medium — die Elektronik — ist nicht als Ersatz der alten Musikinstrumente gedacht, deren Verwendung durch Komponisten, auch durch mich, weitergehen wird. Elektronik ist ein zusätzlicher, kein zerstörender Faktor in der Kunst und Wissenschaft von Musik“ [1959]. Statt über eine Partitur und einen Interpreten kann man in der Elektronik direkt mit einem Klang arbeiten: „Für mich bedeutet die Arbeit mit elektronischer Musik Komponieren mit lebendigen Klängen, so paradox das scheinen mag“ [1965]. Die Elektronik hat also den Klangkosmos erstens zu einem Live-Erlebnis gemacht, daher spricht man von Live-Elektronik. Zweitens hat die Elektronik den Klangkosmos für den Zuhörer geöffnet: jeder Zuhörer ist potenziell ein Komponist, der direkt mit den Tönen – ohne Partitur – arbeiten kann. Die Freiheit der Tonkunst befreit also nicht nur den Klang, sondern auch den Interpreten und den Zuhörer. Um der Befreiung des Klanges und der Emanzipation des Geräusches ihre wahre Bedeutung zu verleihen, muss man der These Jacques Attalis folgen, dass „die Welt nicht lesend, sondern hörend verstanden wird“, wie er sie in seinem Buch Bruits [1977], einer politischen Ökonomie der Musik, vertritt. Platons Diktum folgend, dass an den Staat rührt, wer an die Musik rührt, hört Attalis Musik als Mimesis der sozialen Ordnung. In der westlichen Evolution der Musik unterscheidet Attali drei große Perioden, die den Gebrauch der Musik durch die Macht erklärt: Ritual, Repräsentation und Repetition. Das Ritual ist die erste Phase, in der Musik ein Kampf gegen den Lärm ist. Eine aristokratische Gesellschaft wehrt sich musikalisch gegen den Lärm der Straße, des Volkes, der Sklaven. Musik entsteht als höfisches Ritual. Allmählich sozialisiert die Musik den Lärm und zeigt durch ihre Ordnung, dass eine Gesellschaft möglich ist. In der zweiten Phase, in der Repräsentation, wird die Musik zum Spektakel, die Inszenierung der Gesellschaft durch sich selbst ein Konzert. Die soziale Ordnung plakatiert sich durch die Harmonie der Noten. Der domestizierte Ton soll an die Harmonie der Welt glauben machen, an die Ordnung des Tausches, an die Legitimität des Geldes. Doch das Geld degradiert langsam das Gebäude. Stars entstehen, Meisterwerke, ein Repertoire. Die bürgerliche Gesellschaft stellt sich selbst zur Schau. Das Orchester mit Dirigent, Solist, Ensemble wird zur politischen Metapher für die bürgerliche autoritäre Gesellschaft. Von William Godwin, Autor von Political Justice [1793] und Caleb Williams [1794] etc., bis zu Federico Fellinis Film Die Orchesterprobe [1979] dient daher das Orchester als Metapher und Spielfeld für die Erprobung des anarchistischen Aufstands, für die Utopie der Herrschaftslosigkeit, für die Zertrümmerung der Bourgeoisie. Die ökonomischen Krisen und Kriege spiegeln sich in der musikalischen Trasse von Richard Wagner bis Arnold Schönberg, von Anton Webern zu John Cage. Pathos, Dissonanz und Aleatorik sind Schritte des Zerfalls der Harmonie, in denen sich die Brüche der Gesellschaft wahrnehmen lassen. Die dritte Epoche nach Ritual und Repräsentation ist die Repetition. In der Techno-Gesellschaft des postindustriellen Zeitalters haben die technischen Erfindungen wie Radio, Television, Magnetofon, Schallplatte, DVD, MP3-Player und Smartphone die musikalischen Gewohnheiten umgestürzt, das Hören von Musik vom Konzertsaal nach Hause verlagert, von einem festen Standort zur mobilen Bewegung. Umso mehr wird natürlich die Repräsentanz-Musik zum Ort der bloßen sozialen Repräsentanz, zum Spektakel ohne Musik, wo die Stars, der Maestro das eigentliche Ereignis sind. Durch die Verschiebung von konzertanter Live-Musik zur technisch endlos wiederholbaren Konserven- Musik wird natürlich Musik vom Fest zum Alltag. Es gibt vom Aufzug bis zur Küche fast keinen Ort mehr, an dem keine Musik vorhanden wäre. Musik wird untrennbar vom Alltag. Das findet natürlich Widerhall im musikalischen Werk selbst, von der repetitiven Struktur der Schlager und der Minimalmusik bis zur Alltagsmusik von Cage, welche den musikalischen Klangraum für banale Alltagsgeräusche öffnete. Die verschiedensten Formen des Bruitismus [Punkmusik im Allgemeinen, im Speziellen Einstürzende Neubauten, Throbbing Gristle, etc.] sind daher Anstrengungen, der Realität eine Stimme zu verleihen. Der Lärm der Straße soll auch im Konzertsaal zu hören sein. Der Lärm als Aufstand gegen Repräsentationsmusik ist auch ein Aufstand gegen die bürgerliche Kultur und soziale Ordnung beziehungsweise eine Invasion des Realen, des vom Bürgertum und Kapital geschundenen Realen, in den luxuriösen, von den Spuren der Arbeit, der Ausbeutung und des Realen gesäuberten Klangraum der bürgerlichen Gesellschaft [= Konzertsaal]. Frühe Formen des Rock’n’Roll, der New Wave, der Noise-Musik, mit ihrer beschleunigten Geschwindigkeit und ihrem Lärm, waren solche Invasionen, Schreie des Realen. Musik, die wirklich Musik sein will, ist intelligible Musik, die mehr ist als hörbare Musik. Klassische Musik schweigt zur Realität. Gebrüll, Geräusch, Getöse ist daher oft der legitime Klang des Realen. Der befreite Klang [von Bussoni bis Russolo, von Varèse bis Cage ersehnt] gibt der Realität die Freiheit und den Raum, in dem sie eine Stimme haben kann. Wenn Cage die Fenster und Türen des Konzertsaals öffnete, um den Straßenlärm hereinzulassen, hat er mit einer Geste die von Russolo und Varèse eingeführte Befreiung und Öffnung der Musik, die Beendigung der Repräsentationsmusik, vollendet. Da die klassische Musik zur Realität schweigt, musste Cage die Musik zum Schweigen bringen, um die Geräusche, die Klänge, die Stimmen und den Lärm der Realität selbst hörbar zu machen. Wenn er 4:33 Minuten schweigend vor einem Piano sitzt, wird die Musik zum Schweigen gebracht, wird das Schweigen der Musik [zur Realität] angeklagt. Das Publikum wird gezwungen, den Lärm des Realen [anstatt Musik] zu hören. Was Cage über Varèse geschrieben hat: „He established the present nature of music. This nature … arises from an acceptance of all audible phenomena as material proper for music. While others were still discriminating ‘musical’ tones from noises, Varèse moved into the field of sound itself. That he fathered forth noise … makes him even more relative to present musical necessity than even the Viennese masters …“ [1958], gilt für ihn selbst. Hiermit sind die Quellen der Sound art benannt: alle hörbaren Phänomene werden als musikalisches Material akzeptiert. Erik Satie, dessen Einfluss auf Varèse sehr groß war, hat mit seiner musique d’ameumblement dieses neue Feld des Schalls als einer der ersten abgesteckt, indem er nach einer Musik verlangte, die wie Möbel wäre. Dieses neue Feld der Musik als Feld des Schalls, der Geräusche, der Töne, Klänge und der Stille hat Cage mit seinem Credo „The Future of Music“ [1937/58], mit dem sein Band Silence [1961] eröffnet wird, beschrieben: „Ich glaube, dass die Verwendung von Geräuschen … um Musik zu machen … [sollte das Wort Musik heilig sein und den Instrumenten des 18. und 19. Jahrhunderts vorbehalten, können wir dafür ein sinnvolleres setzen: Klangorganisation] solange Andauern und zunehmen wird, bis wir zu einer Musik gelangen, welche mit Hilfe elektrischer Instrumente produziert wird, die alle beliebigen hörbaren Klänge für musikalische Zwecke bereitstellen. Photo-Elektrizität, Film und mechanische Medien für die synthetische Produktion von Musik werden untersucht werden. Während in der Vergangenheit eine Auseinandersetzung zwischen Dissonanz und Konsonanz im Gange war, wird es in naher Zukunft die zwischen dem Geräusch und den sogenannten musikalischen Klängen sein.“ In der Ausstellung Sound Art. Klang als Medium der Kunst sehen und hören Sie nicht nur „the Future of Music“, sondern vor allem, was daraus Gegenwart wurde: Klangereignisse, Klangskulpturen, Klangobjekte, Schallinstallationen, Sound-Environments. Alle hörbaren Töne, die bisher als Musik nicht hörbar waren, also genauer gesagt: alle bisher ungehörten Töne bilden die neue sonische Kunst des 20. Jahrhunderts:
- Neue Instrumente, eigens gebaute Geräte, bei denen der Unterschied zwischen musikalisch und nicht-musikalisch gefallen ist sowie derjenige zwischen musikalischen und nichtmusikalischen Tönen
- Inkorporierung der Geräusche, der Töne, des Lärms, des Schweigens der Umwelt
- Verschwinden des Interpreten und des Komponisten
- Erforschung neuer Kompositionstechniken
- Autonomie der Klänge
- Spatialisierung und Objektualisierung. Von der Tonbandmaschine zur Tonskulptur, vom akustischen Objekt zum akustischen Raum erfolgte die Bewegung der Befreiung des Klangs
- Emanzipation des Hörers [nach der Emanzipation der Pause durch Webern und der Emanzipation des Schweigens durch Cage]. Der Rezipient wird zum Partizipienten.
Das ZKM wird eine einzige und einzigartige Schallarchitektur, in der Sie eintauchen in eine Welt bisher ungehörter Töne und ungesehener Instrumente. Während der Dauer der Ausstellung ist das ZKM der Nabel der Klangwelt, ein Palast der Töne, ein Parlament aller nur möglichen Schallereignisse und Klänge.